<br />Gedanken für den TagDie Mutter Rainer Maria Rilkes war gerade 30 Jahre alt, als sie sich entschloss, ihre Ehe mit Rilkes Vater zu beenden. Die gebildete Frau lebte von da an allein, reiste viel und nahm mit wachen Sinnen und kritischem Blick ihre Umwelt wahr. 1900 veröffentlichte sie eine kleine Sammlung von Sentenzen, die sie "Ephemeriden" nannte, für den Tag Notiertes. Mehr als hundert Jahre später zeigt sich, dass viele dieser durch Erfahrung und Beobachtung gewonnenen Einsichten und Ansichten durchaus zeitlos sind. Auch die leise Selbstironie, mit der einige von ihnen formuliert sind, teilt sich noch immer unmittelbar mit. Grund genug für Hella Sieber-Rilke, sie, ergänzt durch unveröffentlichte Briefe des Dichters, der die Entstehung und Verbreitung des Buches mit Ratschlägen begleitet hatte, neu herauszugeben.
"Durchs Gedichteschreiben möchte ich dem näher kommen, was mich umgibt", schrieb Hermann Lenz sich einmal auf. "Dem Gras zum Beispiel und den Bergen, die mich überleben werden. Ich erinnere mich, vertiefe mich in das, was ich gesehen und erfahren habe. So komme ich mir näher."
Im Unterschied zu dem Erzähler wartet der Lyriker Hermann Lenz noch immer auf Entdeckung. Sie wird jetzt durch Michael Krügers Auswahl angestoßen, die sich gegenläufig - von den späten Gedichten zu den frühen - vorarbeitet.